SH Dekameron: Der erste Tag
Von Hannes Hansen
Der erste Tag auf der Hallig war angebrochen. Die Morgensonne schien in die Küche, wo Sven Andresen daran ging, das Frühstück für alle vorzubereiten. Am Abend zuvor hatten sie beschlossen, sich bei der Aufgabe täglich zu zweit abzuwechseln.
Sven Andresen war früh aufgewacht und voller Vorfreude auf die kommenden Tage. Er ließ die anderen schlafen, setzte Wasser für Kaffee und Tee auf, holte Butter, Wurst, Käse und Marmelade aus dem Kühlschank und deckte den Tisch. Es würde eng werden.
Später würden sie die noch auf dem Anleger lagernden Lebensmittel ins Haus schaffen müssen. Zwar hatten sie am Vorabend die Sachen für das Frühstück und die vorgekochten Suppen und Braten hereingebracht und im Kühlschrank und der großen Tiefkühltruhe im Schuppen verstaut, aber noch warteten Konserven, Fertiggerichte, Kartoffeln, Reis, Nudeln und frisches Gemüse darauf, hereingebracht zu werden. Sven hoffte allerdings, mit Angeln, Krabbenfang und dem Sammeln von Muscheln und wildem Gemüse Abwechslung in die Speisekarte zu bringen.
Nach und nach kamen auch die anderen in die Küche und Sven ging mit Neuton Lorenz und Annemieke Achterndiek, die, in Hannover lebend, aus Nordfriesland stammte und deren Muttersprache Plattdeutsch war, in den Schuppen, um zwei Gartentische und ein paar Stühle zu holen.
Annemieke deutete auf einen Holzstab in einer Ecke des Schuppens, von dem ein Netz herabhing, das von einem kräftigen, etwa einen Meter langem Brett am Ende des Stabs gespreizt wurde. Sie sagte, wie es schien, überrascht:
„Süh, dor is ja ook ’ne Gliep.“
Annemiekes Muttersprache war Plattdeutsch. Sie stammte von der Insel Nordstrand, lebte aber seit langem schon als hochdeutsche Schriftstellerin in Kiel und schrieb gelegentlich für den Rundfunk plattdeutsche Glossen, um, wie sie sagte, die Sprache nicht zu verlernen. Sven kannte sie seit seinen Anfängen beim Heimatfunk.
„Au fein“, sagte Neuton, „dann können wir ja Krabben fangen.“
„Ja“, sagte Sven und zeigte ins Dunkel des Schuppens. „Dor achtern in de Eck is noch een. Wollen mal sehen. Hängt von der Tide ab. Wir müssen auf Ebbe warten.“
Sie trugen Tische und Stühle und die beiden Gliepen in die Küche und Petulia Prüderich fragte:
„Was ist das denn?“
„Das ist ‘ne Gliep“, antwortete Annemieke.
„Eine was?“
„Ein Gerät zum Fangen von Krabben“, erläuterte Sven. „Neuton und ich wollen nachher noch los. Geht nur bei Ebbe. Ich schau gleich mal in den Tidenkalender.“
„Krabben“, sagte Lilli Lutterbek, „sehen zwar aus wie Engerlinge, schmecken aber gut.“
Nach dem Frühstück, das sich mit Gesprächen und der Diskussion von Plänen für die nächsten Tage lange hinzog, suchte Sven auf seinem Smartphone nach der App mit dem Tidenkalender. Er sagte:
„Auf Hooge ist um zwölf Uhr zweiundvierzig Niedrigwasser. Bei uns dann etwa um die gleiche Zeit. Krabben können wir mit der Gliep zwei Stunden vor und zwei nach Niedrigwasser fangen.“ Er sah auf seine Uhr. „Wir sollten uns auf den Weg machen. Und zieht Gummistiefel an, wenn ihr mitkommen wollt ins Watt. Und zwei von Euch nehmen die Handkarre für das Gepäck auf dem Anleger.“
Sven und Neuton holten zwei verbeulte Zinkeimer und die Gliepen aus dem Schuppen und alle wollten zusehen, wie die beiden mit dem seltsamen Gerät Krabben fingen, und selbst Lilli sagte: „Na, das guck ich mir an.“
Sie gingen über die buckeligen Weiden zum nahen Nordanleger. Kurz vor dem Ziel versperrte ein Priel ihnen den Weg. Ein schmaler, wippender Steg führte hinüber. „Immer nur einer“, rief Sven, und einer nach dem anderen trippelte vorsichtig auf die andere Seite.
Ein Vogel mit fast weißem Federkleid, einer schwarzen Kopfkappe, langen, schlanken Flügeln und einem roten Schnabel übte über ihren Köpfen akrobatische Kunstflugmanöver. Ihre Schreie klangen heiser und schrill zugleich und plötzlich stieß sie auf den langen Lukas Scherzinger herab, drehte aber kurz über seinem Kopf ab.
„Bloß weg hier“, sagte Neuton. „Eine Küstenseeschwalbe. Ihr Nest muss in der Nähe sein. Das verteidigt sie. Kann eklige Kopfwunden geben.“
Sie machten einen Bogen um die vermutete Stelle des Nests und gleich darauf waren sie am Anleger angekommen. Ein leichter Dunst lag über der See und am Horizont zeichneten sich dunkel und flach die Umrisse einer anderen Hallig ab wie ein buckliger Wal.
„Gröde“, sagte Sven. „Da wohnt Claudia Mommsen. Die müssen wir heute Abend anrufen, wenn wir Porrenpann essen wollen.“
„Traust mir wohl nicht“, sagte Annemieke. „Was meinst Du denn, was wir zu Hause gegessen haben, wenn Porrensaison war.“
Die meisten anderen sahen perplex drein. „Porren nennt man in Nordfriesland Krabben“, sagte Sven und wandte sich Annemieke zu. „Ich dachte nur, dass …“. Er fing an zu stottern.
Annemieke lachte. „Lot man goot ween“, sagte sie. „Ist bei mir ja schon lange her. Ich habe Claudia schon angerufen. Alles in Ordnung“.
„Bei uns in Ostfriesland“, sagte Wiebke Hoyer, eine alte Freundin von Lukas und Sven, die auf der Insel Spiekeroog Ferienwohnungen vermietete, „heißen sie Granat.“
Sie stiegen vorsichtig die Treppe hinab, die vom Anleger auf einen schmalen Sandstreifen vor der Steinpackung führte. Dahinter lag das eigentliche Watt, eine Mischung aus hellem Sand und Schlick von der Farbe stumpfen Bleis. Der dünne Wasserfilm auf ihm glänzte in der Sonne. Sie gingen weiter hinaus ins Watt, bis ihnen das Wasser fast bis an die Knie reichte. Sven erklärte ihnen die Arbeit mit der Gliep:
„Ist eigentlich ganz einfach. Hier am Ende der Stange ist ein Brett. Etwa zwei Meter lang. Daran ist das Netz befestigt, das hier oben von einer Querstange gespreizt wird und an der Schiebestange hängt. Man schiebt das Brett über den Wattboden und die aufgescheuchten Krabben springen ins Netz. Das muss man dann nur noch umstülpen und hat die Krabben im Eimer.“
Er drückte die Gliep in den Wattboden und schob. Sand und Schlick wurden hochgewirbelt und mit ihnen Krabben. Die Krabben fielen ins Netz. Ein paar Meter zu seiner Linken tat Neuton es Sven gleich. Die Arbeit war anstrengend und nach wenigen Minuten blieben sie tief durchatmend stehen.
„Wollt ihr es auch mal versuchen?“, fragte Sven.
Lukas Scherzinger zeigte sich sofort bereit und nahm Svens Gliep. Wolf Martin Sökland, ein pensionierter Oberstudienrat und Schulfreund Svens, der in Südfrankreich lebte und bei einem Besuch in der alten Heimat von der Corona-Krise überrascht wurde und in Kiel festsaß, ließ sich von Neuton dessen Gliep geben. Beide stellten sich zunächst etwas ungeschickt an und verkanteten das Schiebebrett. Lukas wäre dabei fast ins Wasser gefallen. „Herrschaft Sechser“, fluchte er, lachte aber gleich wieder. Bald aber machten die beiden ihre Sache recht ordentlich und nun wollten auch die anderen ihr Glück mit der Gliep versuchen.
Nach einer Stunde sagte Sven:
„Die Ebbe kentert bald. Wir gehen zurück und versuchen es noch einmal im Priel. Wir haben auch schon fast genug. Lasst ausreichend Wasser im Eimer. Zum Kochen ist Meerwasser am besten. Und vergesst das Gepäck auf dem Anleger nicht.“
„Machen wir“, sagte Lukas, und zu Wolf Martin Sökland gewandt: „Komm mit, Wolf.“
Im tief in den Halligboden eingeschnittenen Priel lief das Wasser immer noch ab. Sven und Neuton stiegen vorsichtig den dicht bewachsenen Hang hinunter und schoben die Gliepen durch das nur noch etwas mehr als knöcheltiefe Wasser. Die Ausbeute erwies sich als überraschend reich und schon nach wenigen Minuten: sagte Sven:
„So, das reicht für heute.“
Im Haus angekommen füllte Annemieke einen großen Topf mit dem Meerwasser, stellte ihn auf die Herdplatte, wartete, bis es kochte, und warf dann die Krabben hinein. Als die Panzer der Tiere sich intensiv rosig rot glänzend färbte, sagte sie zu Sven:
„Lang mi mol den Schleef.“
Sven gab ihr eine große Schöpfkelle und sie holte die Krabben aus dem kochenden Wasser und warf sie in einen Topf mit kaltem Wasser.
„Ein paar Minuten noch, bis sie abgekühlt sind“, sagte sie, „dann geht es ans Pulen. Könnt ihr doch oder?“
Alle wollten mitmachen und Annemieke und Sven zeigte den Neulingen, wie man die Krabben aus ihrem Panzer holte:
„Geht ganz einfach“, sagte er, „am Kopf und am zweiten Glied anfassen, eine kurze gegenläufige Drehung und ihr könnt das Fleisch herausziehen. Aber vorsichtig und behutsam.“
Alle versuchten ihr Glück und nicht bei jedem ging es so einfach wie bei Annemieke und Sven, die die Handgriffe seit ihrer Kindheit beherrschten. Doch nach und nach gelang es allen, die rosigen Körper der Krabben aus ihrem Panzer zu ziehen.
Nach einer guten Stunde Pulens war die Arbeit geschafft und Annemieke sagte:
„Heute Abend gibt es Porrenpann. So lange kommen die Krabben in den Kühlschrank.“
Sie gingen auseinander, einige auf ihre Zimmer, andere machten einen weiteren Erkundungsspaziergang um die Hallig, wieder andere setzten sich vor dem Haus auf die Bänke und Stühle, um zu lesen, zu dösen oder den Enten auf dem Fething zuzusehen.
Gegen Abend versammelten sich alle wieder in der Küche, um Annemieke bei der Zubereitung der Porrenpann zuzusehen. (Rezept siehe unten.)
Nach wenigen Minuten sagte Annemieke:
„So, fertig. Haben wir Petersilie?“
„Hol ich.“ Sven ging in den verwilderten Garten hinter dem Schuppen und kam mit ein paar Handvoll Petersilie zurück.
„Kannst schon mal hacken“, sagte sie zu der stillen Rieke Ingwersen.
Annemieke tat jedem eine Portion Porrenpann auf den Teller, streute Petersilie darüber und sagte:
„Guten Appetit.“
Für einige von ihnen war das Gericht ungewohnt und sie probierten es vorsichtig. Aber allen schmeckte es und satt und zufrieden gingen sie ins Wohnzimmer, ließen sich nieder und warteten auf die erste Geschichte. Alle waren sich einig, dass Sven als Hausherr den Anfang machen sollte.
Rezept für Porrenpann (Rezept: Claudia Mommsen, Hallig Gröde)
Zutaten:
- Gepulte Krabben
- Milch oder Sahne
- etwas Mehl
- Salz, gehackte Petersilie
- Salzkartoffeln
Die Krabben in Milch oder Sahne aufkochen (nur kurz zum Andicken, nicht länger). Die Soße mit etwas Mehl oder Kartoffelmehl andicken. Mit Salz abschmecken und mit Petersilie bestreuen. Dazu Salzkartoffeln.
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