SH Dekameron: Winston Churchill und das weiße Kaninchen
Georg Simon erzählt:
Von Jörg Rönnau
Wie so oft und gerne saß ich am Ostseestrand der Kieler Förde bei Laboe, ließ den feinen Strandsand durch meine Finger rieseln und blickte in die Ferne. Ich komme gerne hierher um nachzudenken. Das Meer ist sehr inspirierend und mir kommen dabei oft die besten Ideen. Am Horizont zogen mehrere Containerschiffe dahin. Richtung Fehmarn steuerte sogar ein Traditionssegler, eine Bark, und ich hätte wetten können, es sei die Alexander von Humboldt mit ihren malerisch grünen Segeln.
Links von mir balgten sich schreiend mehrere Möwen um einen toten Fisch und ein weißes Tier, das ich nicht genau erkennen konnte, verschwand zwischen den Dünen. Rechts kletterte ein Windsurfer immer wieder auf sein Board, fiel aber jedes Mal ins Wasser und fluchte. Aus derselben Richtung näherte sich eine männliche Gestalt. Noch war der Kerl weit entfernt, aber ich konnte erkennen, dass er ziemlich übergewichtig war und einen teuren maßgeschneiderten Anzug trug. Auf dem Kopf thronte ein Bowler und immer wieder ließ er seinen Handstock kreisen oder er kickte damit kleine Steine ins Meer. Gleichzeitig ließ der Dicke den Blick umherschweifen, als suche er etwas, und es schien, als würde er sich mit sich selbst unterhalten. Als er sich direkt vor mir am Ufer befand, stoppte er abrupt und schaute in meine Richtung. Ich wunderte mich über diesen Typen, denn der vornehm gekleidete Herr sah aus wie der ehemalige britische Premierminister Sir Winston Churchill höchstpersönlich. Als er sich direkt vor mir am Küstensaum befand, änderte er plötzlich die Richtung und steuerte direkt auf mich zu. Wenige Meter vor mir hielt er an, nickte grüßend und sagte:
„Good Morning, my Friend! Darf ich Sie etwas fragen?“
Er sprach mit englischem Akzent. Ich schaute zu ihm auf und nickte.
„Moin, na klar.“
Der Mann lächelte mich an und ließ sich schwerfällig neben mir in den Sand plumpsen, wobei seine Hose sich etwas nach oben zog und ich lila Söckchen in seinen schwarzen Schuhen erkannte.
„Haben Sie zufällig Harvey gesehen? Ein etwa zwei Meter großes Kaninchen mit langen Ohren und roten Augen? Wir haben uns vorhin gestritten und er ist dann in diese Richtung gelaufen. Oh, Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Churchill, Winston Leonard Spencer-Churchill.“
Dabei hob der Gentleman seinen Bowler kurz an. Während er sprach, zündete er sich eine dicke Zigarre an und paffte Rauchringe Richtung Ostsee, die sich aber schnell auflösten.
„Und? Haben Sie Harvey gesehen?“
Vor lauter Erstaunen konnte ich nicht antworten und schüttelte nur irritiert den Kopf. Träumte ich das alles oder verlor ich gerade meinen Verstand? Ich meine, Winston Churchill ist seit Jahrzehnten tot und dieses Karnickel Harvey war ein Puka aus dem Theaterstück „Mein Freund Harvey“ von Mary Chase. Zudem gab es dazu auch noch eine Hollywoodkomödie mit James Stewart in der Hauptrolle aus dem Jahr 1950. Wieso sollte Winston Churchill diesen Hasen Harvey hier in den Dünen von Laboe suchen? Das alles war doch sowas von bescheuert! Ich kniff fest die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, dachte ‚Nein, nein, nein!‘, zählte bis zehn und öffnete sie wieder.
Winston Churchill saß immer noch neben mir, rauchte und schaute mich fragend an.
„Bitte! Ich muss Harvey unbedingt finden, denn der Ärmste ist immer sehr unbeholfen, wenn er alleine ist und ihm passieren dauernd irgendwelche Missgeschicke. Also, haben Sie ihn zufällig gesehen?“
„Nee, den hab ich nicht gesehen“, antwortete ich.
„Ach wie schade. Hoffentlich ist Harvey nichts passiert. Er planscht nämlich gerne im Wasser, wissen Sie, aber er kann nicht schwimmen und überhaupt …“
„Aha“, war alles, was ich rausbrachte.
„Nun denn, dann muss ich wohl weitersuchen. Vielleicht hat er sich beim U-Boot-Denkmal versteckt”, resümierte Churchill, erhob sich behäbig und klopfte sich den Sand von der Hose.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, sagte der ehemalige britische Premierminister zum Abschied und machte sich auf den Weg Richtung Laboe, wo er nach wenigen Augenblicken hinter einer Landzunge verschwand.
Lange schaute ich dem Mann hinterher, konnte einfach nicht glauben, was eben passiert war. Ich ließ mich rücklings in den Sand fallen und betrachtete die gigantischen Kumuluswolken, die vor einem blauen Sommerhimmel aufs Meer hinauszogen.
Diese Begebenheit konnte ich doch niemandem erzählen, wer würde mir so etwas glauben? Winston Churchill sucht ein weißes Kaninchen am Strand von Laboe. Man würde mich sofort in die Klappsmühle einweisen. Keiner Menschenseele wollte ich davon erzählen.
Irgendwann stand ich auf und machte mich auf den Weg zum Parkplatz in Neustein, wo mein Auto stand. Mitten in den Dünen kamen mir zwei Männer entgegen, die sich zu streiten schienen. Zu meiner großen Verwunderung kannte ich diese Kerle als Filmstars des beginnenden 20. Jahrhunderts aus dem Fernseher. Was mich allerdings noch mehr verwirrte, war ihre Farblosigkeit. Diese beiden Typen hatten keinerlei Farbe, sondern bestanden komplett nur aus Schwarz-Weiß. Stan Laurel und Oliver Hardy kamen mir entgegen, wobei Hardy dem Laurel immer wieder mit der flachen Hand auf den Hinterkopf schlug und „Du hast Schuld, dass er weg ist!“ rief. Woraufhin Laurel laut aufjammerte: „Aber du hast auch nicht richtig aufgepasst!“
„Doch!“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
Plötzlich bemerkten die beiden mich und erröteten. Oliver Hardy nahm verlegen seinen Hut vom Kopf und steuerte auf mich zu.
„Entschuldigen Sie bitte, aber haben Sie vielleicht …“
„Harvey und Winston Churchill sind den Strand rauf in Richtung Laboe gegangen!“, unterbrach ich ihn.
Die beiden schauten sich überrascht an und nun erhellten sich ihre Gesichtszüge vor Freude.
„Zu gütig, mein Herr“, antwortete Stan Laurel. „Komm schnell, Olli! Wenn wir uns beeilen, dann erwischen wir die beiden noch.“
„Gern geschehen“, sagte ich, als wäre diese Begegnung das Normalste der Welt.
Schnell verschwanden Oliver Hardy und Stan Laurel zwischen den Dünen, wobei sie wieder anfingen, sich zu streiten.
Als ich im Wagen saß, konnte ich lange nicht losfahren. Immer wieder flimmerten die Begebenheiten der letzten Stunden wie ein Film vor meinem inneren Auge und ich grübelte darüber nach, wie so etwas möglich sei. Es begann bereits zu dämmern, als ich den Motor startete und losfuhr. Kurz hinter Laboe zog Nebel auf und ich kam an eine Straßensperre. Ein Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht versperrte mir den Weg. Ein Polizist bugsierte mich mit einer Kelle auf die Bankette, wo ich den Wagen stoppte, ausstieg und auf den Beamten zuging.
„Was ist den passiert?”, fragte ich.
„Nun, ja“, antwortete der Polizist. „Eine äußerst merkwürdige Geschichte. Sie werden es nicht glauben, aber vor einer viertel Stunde ist hier ein zwei Meter großes Kaninchen von einem Kleintransporter überfahren worden. So etwas habe ich in meinen zwanzig Dienstjahren nicht erlebt. Ich wusste nicht einmal, dass es hier in der Probstei solch große Hasen gibt. Zum Glück ist dem Speditionsfahrer nichts passiert.“
„Oh, nein! Harvey ist tot?“, rief ich überrascht aus.
„Wie bitte?“
„Ach nichts, äh, alles okay, Herr Wachtmeister.“
„Die Straße ist gesperrt! Ich muss Sie bitten, zurückzufahren und die Route über die B 502 zu nehmen!“
Traurig stieg ich wieder in den Wagen, wendete und fuhr zurück.
Als ich am Parkplatz in Neustein vorbeikam, erkannte ich Winston Churchill, Oliver Hardy und Stan Laurel, die immer noch den Strand absuchten und lauthals immer wieder „Harvey!“ riefen.
Ein dicker Kloß schnürte mir den Hals zusammen und Tränen rollten über meine Wangen. Ich konnte einfach nicht anhalten und den Gentlemen die Wahrheit sagen. Schnell gab ich Gas, beschleunigte den Wagen und fuhr in den immer dichter werdenden Nebel hinaus, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu blicken.
„Winston Churchill und das weiße Kaninchen“ in der Mediathek von Kiel TV (Sendung am 4.2.2021, 18:30 Uhr / Wdh.: 25.3., 18.30 Uhr)
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