SH Dekameron: Zeit
Enrico Scottini erzählt:
Von Henning Schöttke
Wie immer, wenn er über seine Sache sprach, fühlte Tim Handke sich unbehaglich. Er hatte all seine Sätze im Kopf vorformuliert, damit er zum Aussprechen so wenig Worte wie möglich brauchte.
„Haben Sie schon mal einen Patienten gehabt”, fragte er, „bei dem das Zeitempfinden so verändert war, dass er viel schneller denken konnte und dadurch alles langsamer empfand?”
„Sie meinen, dass er sich langsamer bewegt?” Tim sah auf Dr. Hackenbergs Hand, die über dessen sorgfältig gestutzten grauen Kinnbart strich, und auf seinen Mund, der sich endlich öffnete und weitersprach. „Das gibt es bei manchen Nervenschäden schon. Da werden die Patienten unsicher in ihren Bewegungen – vor allem alte Menschen – und dann bewegen sie sich natürlich langsamer.”
Aber das meinte Tim nicht. Er hatte seit einigen Wochen das Gefühl, dass um ihn herum die Zeit langsamer verging. Er hörte die Stimme des Arztes so, als würde sie von einem Tonband kommen, das auf langsame Geschwindigkeit eingestellt war. Er hörte sie auch tiefer. Und manchmal schien sie zu leiern.
„Und Ihre eigene Stimme?”, fragte Dr. Hackenberg.
„Bei der ist das auch so.”
„Sie haben das seit einigen Wochen?”
Tim antwortete jedes Mal sofort. Wenn er schon auf alle Sätze des Arztes so lange warten musste, sollte wenigstens bei ihm selbst das Gespräch vorankommen.
„Ja, seit Anfang März”, sagte er. „Da habe ich im Spiel gegen Osnabrück den Ball an den Kopf bekommen.”
Der Doktor griff nach einigen, vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden, Blättern. Er stützte den Ellenbogen des anderen Armes auf und drehte beim Lesen seinen Kugelschreiber in der erhobenen Hand.
„Das steht hier ja auch in Ihrer Krankenakte. Sie waren bewusstlos und mussten ausgewechselt werden. Dann waren Sie eine Nacht zur Beobachtung in der Neurologie. Aber bei den Untersuchungen Ihres Kopfes – CT, EEG – wurden keine Auffälligkeiten festgestellt. Und von Missempfindungen steht hier auch nichts.”
Es war ja in dem Sinne auch keine Missempfindung. Sondern das Zeitgefühl. Das war schon so gewesen, als Tim im Krankenbett aufgewacht war. Die anwesende Schwester hatte mit einer ganz tiefen, langsamen Stimme gesprochen. Und seine Frau, die kurz darauf kam, auch.
Richtig bewusst wurde es ihm erst, als seine Frau sich zu ihm ans Bett setzte. Er verbarg seinen Schreck vor ihr, wollte sie nicht beunruhigen. Gerade hatten sie ihre kleine Tochter bekommen. Er dachte, dass würde bestimmt irgendwie von allein wieder weggehen. In seiner Familie hatte es immer geheißen: nicht rumjammern, sondern Zähne zusammenbeißen.
Der Kugelschreiber rutschte Dr. Hackenberg jetzt aus den Fingern, und Tim sah ihm dabei zu, wie er auf den Schreibtisch hinunterschwebte.
„Können Sie dieses Phänomen näher beschreiben?”, fragte der Arzt.
Tim konnte sein Zeitgefühl zum Teil willentlich beeinflussen. Wenn er wollte, konnte er noch viel schneller denken. Er war nur ein mittelmäßiger Schachspieler. Aber im April hatte er – nur so zum Spaß – ein kleines Turnier mitgespielt. Bei Schachturnieren hatte man pro Partie ja nur eine gewisse Menge an Zeit zum Nachdenken zur Verfügung. Doch da er viel schneller denken konnte, hatte er im Prinzip so viel Zeit gehabt, wie er wollte. Aber nach dem Turnier hatte er seine schnelle innere Zeit mehrere Tage nicht wieder langsamer stellen können. Das hatte ihm ganz schön Angst gemacht.
Der Arzt sah auf die Uhr über der Tür des Besprechungszimmers. „Unser Gespräch jetzt, das hat bisher etwa zehn Minuten gedauert. Wie lang war das subjektiv für Sie?”
Tim sah, wie der Sekundenzeiger sich bewegte. Er wartete … wartete … die nächste Sekunde … wartete …
„Hm … vielleicht … anderthalb Stunden?”
Er streckte die Beine aus. Am Anfang aller Bewegungen schienen seine Muskeln hart, und es war, als würde er die Beine durch Gelee schieben.
„Und wie ist das beim Fußball”, fragte Dr. Hackenberg, „während Ihrer Spiele?”
„Für einen Torwart ist ein solches Reaktionsvermögen natürlich unfassbar gut. Als ich im März den Ball an den Kopf bekam, standen wir auf Platz acht der Tabelle. Und seitdem habe ich nur zwei – das müssen Sie sich mal vorstellen! – in zehn Spielen habe ich nur zwei Tore kassiert. Und jetzt steht Holstein auf Platz drei punktgleich mit dem HSV. Und im DFB-Pokal haben wir es bis ins Finale geschafft.”
„Ich bin kein besonders fußballbegeisterter Mensch, wie ich gestehen muss. Aber so viel weiß ich immerhin: Das Finale ist gegen Bayern München.”
Tim hatte vor zwei Wochen noch mal versucht, das alles seiner Frau zu erzählen, aber schon als er anfing, bekam sie ganz große Augen und diesen Tonfall, den sie immer hatte, wenn sie sich Sorgen machte. Ihre Eltern waren beide an Gehirnkrankheiten gestorben. Ein anderes Mal hatte er sein verändertes Zeitgefühl gegenüber ein paar Spielerkollegen angedeutet. Nach dem Spiel gegen St. Pauli, die sie 3:0 geschlagen hatten. Auf der Heimfahrt im Bus. Aber die hatten nur gelacht, und einer hatte gesagt, dann wäre Tim ja wohl bald der Welttorwart des Jahres, und so was würde er sich auch wünschen.
„Insofern”, sagte Tim, „sind Sie überhaupt der erste, dem ich das so ausführlich erzähle.”
„Diese Angst, die Sie vorhin erwähnten, was bedeutet die genau?”
Tim versuchte die Stimme Dr. Hackenbergs in seinem Kopf schneller zu stellen, aber er schaffte es nicht.
„Das heißt”, sagte er, „ich habe Angst, dass ich irgendwann nicht mehr kontrollieren kann, wie sehr sich alles um mich herum verlangsamt. Doch andererseits ist gerade bei entscheidenden Spielen die Versuchung groß, sehr, sehr schnell zu denken.”
„Hm …”, sagte der Arzt. „Ich werde mich bis zum nächsten Mal mit der einschlägigen Fachliteratur über Störungen des Zeitempfindens befassen. Und dann sollten wir uns in zwei Wochen noch mal sehen.”
Das Endspiel des DFB-Pokals fand wie jedes Jahr Ende Mai im Berliner Olympiastadion statt. Vor einer Kulisse von über 70.000 Zuschauern zu spielen, davon hatte Tim Handke immer geträumt. Dies war das Spiel seines Lebens.
Für das Spiel gegen Bayern München hatte der Trainer Holstein Kiel auf eine extrem defensive Taktik eingestellt. Sie hatten mit Tim den besten Torwart der deutschen Profiligen und sollten auf Konterchancen lauern.
Die hatten im Spiel auf sich warten lassen. Holstein Kiel fand lange Zeit kein Mittel gegen die perfekt stehende Abwehrreihe der Bayern. Erst kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit kamen die Kieler zwei Mal gefährlich vor das gegnerische Tor. Nach dem Seitenwechsel das Gleiche. Ab einer Viertelstunde vor Schluss drückten die Münchner zwar mit aller Macht, um noch in der regulären Spielzeit eine Entscheidung zu erzwingen. Aber sowohl da als auch in der Verlängerung lief ihre Angriffsmaschine ins Leere. Tim parierte auf Weltklasseniveau und zeigte spektakuläre Paraden, die in die Fußballgeschichte eingehen würden.
Mittlerweile war es drei bis vier Minuten vor dem Ende der Verlängerung. Sofern Tim seinem Gefühl in Bezug auf den Verlauf der realen Zeit überhaupt noch trauen konnte. Die Bayern spielten gerade eine kurze Ecke. Von Myron Bromas geflankt, schwebte der Ball in den Kieler Strafraum. Tim hatte sich im Moment des Abspiels umgesehen. Ein Augenblick, der sich aus seiner subjektiven Sicht anfühlte wie zwei, drei Minuten. Genug Zeit, sich die Position aller Spieler genau einzuprägen und aus deren Geschwindigkeit und Richtung auf wenige Zentimeter genau vorherzusagen, wo jeder Spieler beim Auftreffen des Balles sein würde.
Leon Goretzka würde am Ball vorbeispringen. Doch Denzel Veltman aus dem Hintergrund, auf den musste Tim achten. Der kam zwar in einem Winkel an, dass er den Ball nicht ins Tor köpfen konnte, aber er konnte den Ball zu Lewandowski verlängern. Auch in dieser Situation führte Tims Voraussicht zum bestmöglichen Stellungsspiel, und er brauchte den von Lewandowski geschossenen Ball, der auf die rechte Torseite zuschwebte, nur aus der Luft zu pflücken. Das Spiel endete 0:0.
Darauf hatte Tim gehofft. Im Elfmeterschießen stellte er seine Zeit noch viel langsamer. Nachdem er den ersten Elfmeter von Thomas Müller pariert hatte, ging Kiel durch Fin Bartels in Führung. Bei dem zweiten Schützen dagegen war sogar Tim machtlos. Dessen Ball war so platziert geschossen, dass er genau ins linke obere Eck schwebte. Aber Holstein erhöhte durch Janni Lauber und Jae-Sung Lee auf 3:1.
Im darauf folgenden Schuss ging es für Bayern München um alles. Dieser Ball musste im Tor landen. Tim sah, wie sich Robert Lewandowski trotz seiner Riesenschritte in Zeitlupe auf den Ball zubewegte, und was auch immer für Körpertäuschungen er versuchte, gegen Tim waren solche Tricks bedeutungslos. Von dem Moment an, als Lewandowskis Fuß sich in die endgültige Richtung bewegte, bis zu seinem Auftreffen auf den Ball vergingen für Tim subjektiv zehn Sekunden. Er machte einen großen Ausfallschritt nach links und der Ball schwebte genau auf seinen Körper zu. Er nahm ihn mühelos aus der Luft.
Der aufbrausende Jubel war tief und lang wie Donnergrollen. In den Gesichtern seiner Mitspieler, zunächst noch unbewegt, öffneten sich die Augen und die Münder, Arme breiteten sich aus und seine Mitspieler bewegten sich auf ihn zu.
Die anschließende Siegerehrung wand sich mit quälender Langsamkeit dahin. Heroische Musik erklang, deren einzelne Melodietöne in tiefem Rauschen versanken.
„Meine Damen und Herren”, rief der Stadionsprecher. „Die Pokaltrophäe wird gebracht von …” Jedes einzelne Wort war so sehr in die Länge gezogen, dass Tim dessen Sinn nur verstand, weil er nach Pokalendspielen schon mehrere Siegerehrungen gesehen hatte. Der Bundespräsident wurde angekündigt, der DFB-Präsident wurde angekündigt, der DFB-Generalsekretär wurde angekündigt, der Schiedsrichter wurde geehrt. Die Sieger standen Spalier für das unterlegene Team.
„Einen herzlichen Applaus für den FC Bayern München.”
Thomas Müller schob sich vor Tim vorbei. Das Profil unbeweglich, wie gemeißelt. An seinem Hinterkopf bewegten sich ein paar Haare behäbig im Wind. Wie endlos lange würde es dauern, bis Tim zu seiner Frau und seiner Tochter nach Hause kam? Würde es sich für ihn wie Tage anfühlen? Wie Wochen, wie Monate oder gar wie Jahre?
„Meine Damen und Herren – die Pokalsieger: Holstein Kiel!”
Mittlerweile bescherte ihm jeder Lidschlag lange Dunkelheit. Endlich folgte die Aufstellung vor der Tribüne, auf der sie die Medaillen umgehängt bekommen sollten. Jeder einzelne Schritt zog sich mehr und mehr in die Länge. Irgendwann erklomm er selbst eine Stufe der Tribüne. Weit, weit vor ihm legte ein freudstrahlender Fin Bartels als erster eine Hand auf den Pokal. Tim blickte auf den Rücken von Makana Baku, der sich vor ihm die Stufen hinaufschob.
Links von ihm stand ein Fliege in der Luft. Er sah ihre durchsichtigen Flügel schlagen. Die Zeit wälzte sich dahin mit der Trägheit von zähem Schleim. Gedichte fielen ihm ein, die er als Kind gelernt hatte, und er sagte sie sich wieder und wieder auf. Er dachte an alle Geschichten, die er kannte, und versuchte sich an Romane und Filme zu erinnern. Die Fliege war nur wenige Millimeter weiter.
Dann erhob sich die Angst, aber mit ihr kam kein schneller Herzschlag. Das Blut wallte in ihm mit der Langsamkeit von Ebbe und Flut. Irgendwann hatte vor ihm Makana Baku die Medaille umgehängt bekommen. Und noch bewegten sich Dinge. Auch wenn alles um ihn herum zu verharren schien, wandte sich ihm das Gesicht des DFB-Präsidenten in monoton gleichförmiger Bewegung zu. Alles hatte sich so sehr verlangsamt, dass er bei jedem Lidschlag minutenlang nichts sah. Falls die Zeit jetzt endgültig stehenblieb, so hoffte er, dass dies wenigstens nicht während des Dunkels des Lidschlags geschah. Die Augen des DFB-Präsidenten waren nun auf ihn gerichtet, und es konnte sein, dass er dabei war, die Medaille anzuheben. Ob dies die in Äonen gemessene Zeit war, mit der sich Gletscher verschoben? Fühlten sich so die Kontinente, die sich aus dem Meer erhoben?
Schließlich blieb die Zeit für ihn stehen. Tim starrte auf die Medaille, und seine Gedanken rasten immer schneller und schneller, aber seine Augen bewegten sich nicht mehr.
Zu weiteren Teilen des Schleswig-Holsteinischen Dekameron
Anmerkung: Im Nachhinein erwies sich diese Geschichte geradezu als prophetisch: Siehe hier!
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